Holunderzeit
Mitteldeutscher Verlag, 1982

Lieber Weihnachtsmann
(eine Weihnachtsgeschichte aus dem Jahr 1982)

1

Wie lange Mark nun schon stille steht. Kann er sonst nie.
Karla hat inzwischen die Geduld verloren. Tritt von einem Bein aufs andere und spielt mit dem Riemen ihrer Umhängetasche. Sie faltet ihn in kleine Stücke wie eine Ziehharmonika zusammen und lässt ihn dann aus den Händen gleiten. Streicht ihn glatt, und jedes Mal, bevor sie von neuem mit dem Falten beginnt, schaut sie nach ihrem Jungen.
Der steht hinter der Umgrenzung, nahe beim Bedienpult. Ganz still steht er, spricht nur manchmal leise vor sich hin.
Zum vierten oder fünften Mal besuchen sie nun die Ausstellung. Die beiden Frauen, die Aufsicht führen, und die jungen Männer am Bedienpult kennen den Jungen schon, sie sagen nichts, wenn er durch die Umgrenzung kriecht.
18.00 Uhr, wenn die Ausstellung geschlossen wird und Karla mit Mark nach Hause geht, wird er ihr wieder erzählen, von den Loks, den Wagen, wird sie einzeln benennen und das Licht und ... "Hat die Ausstellung morgen auf?", wird er fragen. "Morgen, nein. Sonntag. Sonntag", wird Karla sagen. Und immer wieder sein "Hat der Weihnachtsmann noch so eine Eisenbahn?"

2

Karla hat einen Katalog gekauft. Berliner TT-Bahnen. Nicht zögern - einfach anfangen! ist auf Seite 2 zu lesen. Darunter ein Bild. Zwei Jungs mit ihrem Vater. Auf dem Tisch vor ihnen ein Schienenkreis mit einer kleinen Bahn. In Farbe alles.
Karla hat zwei Züge gekauft. Einen Personenzug und einen Güterzug. Bestimmt ist Mark dafür noch zu klein. Vielleicht ist es nicht gut, ihm jetzt schon...
Abends sitzt Karla noch im Wohnzimmer und klebt aus winzigen Plastteilchen Häuser.

3

Früh im Halbschlaf, manchmal sogar nachts, hört Karla den Sohn reden, von Dieselloks und Elektroloks, Doppelstockwagen und Klappdeckelwagen. Von Bahnsteigen, Brücken und Tunnels. Die Kindergärtnerin sagt: "Wir haben heute Michaels Eisenbahn angeschaut. Eine riesige Anlage. Sehr schön. Michaels Vater hat den Kindern alles vorgeführt.
Doch als wir zurück waren, hat Mark immerzu geweint und ließ sich nicht beruhigen. Schließlich sagte er uns, dass er auch so eine Eisenbahn möchte, wie Michael eine hat."
Die Kindergärtnerin schaut Karla ins Gesicht, zögert einen Augenblick, bevor sie weiterspricht: "Michael hat es bestimmt nicht böse gemeint. Ihm tat Mark wohl leid. Du hast doch keinen Vater, hat er gefragt. Hast du einen Opa? Nein? Dann wird es schwierig. Bestimmt wird es da nichts mit der Eisenbahn. - Was wollen Sie nun machen?" fragt die Kindergärtnerin. "Ich habe noch nie einen so kleinen Jungen mit so festen Vorstellungen erlebt."
"Weihnachten bekommt er seine Eisenbahn", erwidert Karla, und sie schüttelt nur den Kopf, als die Kindergärtnerin ihr die Hilfe ihres Mannes anbietet.
Mark spricht mit seiner Mutter nicht über den Besuch bei Michael, erklärt ihr nur in beinahe feierlichem Ton: "Michael ist jetzt mein Freund."

4

Karla hat endlich eine große Pressspanplatte bekommen.
Der Aufbau einer Anlage scheint schwieriger zu sein, als sie dachte.
Einmal sagt ein Verkäufer: "Sie haben wohl keine Beziehungen über GENEX ? (1)

5

Karla hat gelernt, all die Kleinigkeiten zu benennen, die verschiedenen Gleisstücke und Weichen, Tastenpulte, Klemmleisten, Signale, überhaupt alles...
Manchmal läuft sie jetzt während der Arbeitszeit zum Spielzeugladen, stellt sich dort an, wenn die Lieferung kommt.
Sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich so eine Bahn aufbauen kann.

6

Als Karla die Platte beklebt hat, die Schienen aufgenagelt, all die Drähte gezogen und die Fassungen angebracht hat, als alle Lämpchen brennen und sie zum ersten Mal in ihrem Leben so eine Modellbahn fahren lässt, immer wieder fahren lässt, steht sie ganz still, und das Blut klopft in ihren Händen. Es ist wie Weihnachten, damals, als sie noch selber Kind war.

7

"Der liebe Weihnachtsmann", ruft Mark, "der liebe Weihnachtsmann."
Noch oft lässt Karla abends, wenn der Junge bereits zu Bett ist, die kleine Bahn fahren.
Richtig groß ist er geworden seit Weihnachten, der Junge.



(1) Zur Erinnerung: die "Geschenkdienst und Kleinexport GmbH" vermittelte u.a. zollfreie Geschenksendungen von Bürgern der BRD an Empfänger in der DDR und verkaufte für westliche Währungen u.a. auch hochwertige Erzeugnisse aus DDR-Produktion an DDR-Bürger