Undinenzauber
Philipp Reclam jun. Stuttgart 1991
ISBN 3-15-028683-2

Er war sehr weiß, und er stand neben dem Wasser. Alles an ihm war hell. Er sprach: "Geh fort, Undine, komm, nimm dein Kind, geh fort, Undine."
Ihr wurde immer bang, wenn sie ihn hörte, und sie wartete darauf, ihn zu hören. Ein wenig glaubte sie schon daran, dass sie ihr Kind nehmen würde und fortginge.
Sie würde morgens aufstehen, wie immer, würde einen Koffer packen, nein, nur eine Tasche, und sie würde das Kind wecken. Es wüsste sofort Bescheid und würde sich einmal ohne Widerstand anziehen.

"Bist du fertig", rief der Mann, "die Eltern warten doch." Der Weiße verschwand, und sie ging mit raschen Schritten zum Wohnzimmer, streifte dabei den Toilettentisch, und eine blaue Flasche mit einem Rest Parfüm fiel auf die Glasplatte und zersprang.
"Ist etwas passiert?" - "Nein, ist nicht schlimm. Ich räume es später auf." - "Gut, wir wollen gehen."
So war das fast immer, entweder sie gingen zu den Eltern, oder diese kamen, manchmal gab es Betriebsvergnügen und Brigadefeiern. Nur noch selten war Undine allein. Den Weißen vor dem Fenster am Mühlbach gab es schon lange. Früher schwieg er. Glich einem weißen Nebel am Bach.

Die Großeltern hatten in einem kleinen Häuschen neben der Mühle gelebt. Großvater war Müller gewesen, und Großmutter hatte in der Mühle saubergemacht, hatte gescheuert und den Mehlstaub aus den Säcken geklopft.
Später dann, nach fünfundvierzig, als der Mühlenherr enteignet worden war und fortging, hatte die Gemeinde die Wohnung dem Müller zugesprochen und der sie seinen Kindern. So hatten Undines Eltern ihre Wohnung bekommen, weil die Großeltern sich in der Mühle den Rücken verbogen hatten.
Der Großvater hatte Säcke geschleppt und ein wenig gebauert. Und später hatte er den Namen seiner ersten Enkeltochter bestimmt, sagte einfach. "Es wird ein Mädchen, und ihr nennt es Undine."
Undines Vater, des Großvaters Sohn, schrieb Zahlen, erst beim Mühlenherrn, dann im Volkseigenen Mühlenwerk, heute ist er Hauptbuchhalter, und seine Hände sind hell wie Mehlstaub. Die Mutter ist streng und kann fest zufassen. Sie arbeitet als Verkäuferin, weil es in diesem Dorf keine bessere Arbeit gibt und weil sie sich stets selbst um Undine hatte kümmern wollen. Als die Eltern Undine erwarteten, hatten sie einen großen Garten mit Beerensträuchern und Blumen vor dem Haus angelegt, auch den besorgte die Mutter.
Die Eltern hatten sich immer um Undine gekümmert, dass sie gut lernte, und sie lernte gut, dass sie regelmäßig aß, täglich zwischen 13.00 Uhr und 14.30 Uhr, weil da die Mutter zu Hause war, denn ihr Laden war um diese Zeit geschlossen, dass sie ordentlich gekleidet war und nicht frieren musste.
Einmal war Undine später nach Hause gekommen, war bei einer Freundin gewesen. Sie hatte bei der Freundin zugesehen, wie deren Mutter einen Säugling stillte. Als Undine kam, hatte sich die Mutter schon den weißen Kittel übergezogen.
Die Mutter schlug zu, zweimal, und ging dann aus dem Haus. Damals war Undine sieben Jahre alt, und sie konnte es sich nicht vorstellen, je so auf dem Arm ihrer Mutter gelegen und von deren Brust getrunken zu haben wie jenes Baby.
Als am Abend am Mühlbach der Nebel aufzog, löste sich eine Gestalt ab und strich stumm an ihrem Fenster vorüber...